Ich, eingeholt - MARK VAN HUISSELING

02.07.2022

Kolumne

Ich, eingeholt

Ihr Kolumnist verliert seinen Vorsprung, an junge Leute mit mehr Haaren und modischeren Kleidern. Doch er war mal dabei, immerhin.

Es ist hart, aber unvermeidlich: Man verliert seinen Vorsprung. Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Und die eigentliche Geschichte, was man daraus macht. Es gibt schlechte Beispiele. Eines der besten ist zu sehen in einem Dokumentarfilm über New Yorker Künstler, die mal wichtig waren. Darin tritt auch Lou Reed auf, natürlich, und man wird Zeuge, wie ein frecher Interviewer zum Musiker/Punk-Wegbereiter sagt: «Hey, Lou, wie geht’s, du siehst ein wenig fertig aus.» Worauf der damals vielleicht Sechzigjährige ungefähr erwidert: «Nein, ich sehe ziemlich cool aus, wie immer, ich bin Lou Reed.»

Meinen «Ich-bin-Lou-Reed-Moment» erlebte ich – Vorsicht, Fallhöhe, schon klar – vor zehn oder so Jahren auf der Pressereise, Pardon: Medienreise einer Luxusmarke in die Champagne. Es war niemand dabei, den/die ich kannte, respektive keine/r kannte mich oder die Zeitschriften, für die ich berichtete. Also fragte ich ein Mädchen, das die Gewissheit ausstrahlte, jeder wisse, wer sie sei, was genau ihr Job sei. «Zurzeit pushen mich die Brands, mehr auf Snapchat zu posten», antwortete sie. Und weil sie wohl merkte, dass diese Entgegnung für mich nicht abschliessend war, ergänzte sie: «Ich bin Influencerin.» Zudem fragte sie netterweise: «Und was machen Sie so?»

Wohl dem, der eine Story hat, die sich in 280 Zeichen verbreiten lässt, ein Modewort enthält (zum Beispiel «Twitter») plus eines, das keiner versteht («Blockchain»). Stattdessen sagte ich: «Freier Journalist und Autor, Magazine, ab und an ein Buch, old media halt.» – «Oh», sagte sie und blickte auf ihr Smartphone, mit dem sie pausenlos Fotos von allem und nichts machte (Flaschen, Keller, Konferenzräume, Parkplätze, Horsd’œuvres).

War meine Antwort gut? Besser als die von Lou Reed, denke ich (Entschuldigung, bei mir sonst immer de mortuis nil nisi bene, über die Toten soll man nur Gutes reden, er starb 2013; ich ass mal mit ihm zu Abend, in Miami auf einer Dachterrasse, im Regen).

Was ich gerne gesagt hätte: Die Jungen kommen von hinten, Influencerinnen aus Berlin, Testimonials aus London (vielleicht auch aus Bern oder Lódz). Ich höre ihre schnellen Schritte in teuren Turnschuhen, die sie heute geschenkt bekommen. Ich verliere meinen Vorsprung, doch ich war mal dabei.

Ich war dabei, als Talk Talk in Montreux spielten, 1985, anschliessend fuhr ich in einem MGB GT nach Südfrankreich. Ich war dabei, als Prince ein Aftershow-Konzert gab, 1994, zu dem Fredi Müller nur tausend Leute ins Kaufleuten liess und dann abschloss.

Ursula Andress empfing mich auf ihrem Anwesen bei Rom, 2005, sie trug Gummistiefel, weil sie im Garten gearbeitet hatte, wir fuhren in ihrem klapprigen Fiat in eine Pizzeria. Und Harald Schmidt in Köln; nachdem er Kollegen in einem Interview mitgeteilt hatte, er fände das lustig, wie MvH schreibt. Mouna Ayoub fragte mich nach Mitternacht auf dem Deck der grössten Segeljacht der Welt, die ihr damals gehörte, ob diese Riesenbrüste zu ihr passten, in meinen Augen.

Ursula Andress empfing mich auf ihrem Anwesen bei Rom, 2005, sie trug Gummistiefel.

Ich traf Sting an der Bar des «Dolder»-Hotels, Stunden bevor ich mit ihm verabredet war (er fragte, weshalb ich schon hier sei, ich antwortete, ich interviewe zuerst noch Kylie Minogue). Ich sass mit Cher in einer Hotelsuite. Sowie mit Mariah Carey, die ihre Beine auf meinen Sessel legte und fragte, ob das störe. Ich sagte zu Marianne Faithfull in ihrer Pariser Wohnung: «Ich bitte um Verzeihung, ich muss los, der letzte TGV fährt bald ab», sie sagte: «Well, then, this sounds more important than me» (das tönt wichtiger als ich). Ich verliess Nina Hagens Garderobe im KKL, bevor sie mich rauswerfen konnte (sie war nicht gut drauf, ich auch nicht, sagte sie).

Trotzdem, ich gebe meinen Vorsprung ab, an junge Leute mit mehr Haaren und modischeren Kleidern (die wirklich nett sind, einige richtig gut zudem). Einen Spitzenplatz in der Popkultur (oder anderswo) kann man nicht halten, dieses Rennen verliert man. Das habe ich verstanden, als ich den Song «Losing My Edge» von LCD Soundsystem, die Debüt-Single übrigens, erstmals hörte. Das war 2002. Ich gratuliere James Murphy, dem Multitalent hinter der Band, zum zwanzigsten Jahrestag seiner scharfsichtigen Erkenntnis. Er hat mir geholfen, darüber wegzukommen. Ich war mal dabei, immerhin.