Mein One-Hit-Wonder - MARK VAN HUISSELING

28.05.2022

Kolumne

Mein One-Hit-Wonder

Tausend Kolumnen sowie zahlreiche längere Artikel und trotzdem – «Sie machen Lifestyle, nicht wahr?» Ich kann mich in Percy «When a Man Loves a Woman» Sledge hineinversetzen.

Als ich ein Heranwachsender war, gab’s in Bern das «Babalu», ein Dancing. Live-Musik jeden Abend war schon vor vierzig Jahren ein schwieriges Geschäftsmodell in einer mittelkleinen Stadt. Weshalb immer mehr Partys mit Sounds ab Platten von preiswerteren Discjockeys bespielt wurden, darunter der sogenannte Coiffeusen-Riss am Montagabend (montags hatten Coiffeusen frei – sie hätten sich also eigentlich sonntagabends aufreissen lassen sollen, doch dann war das Lokal zu). Gelegentlich aber trat Percy Sledge auf, live in concert. Und spielte als Höhepunkt «When a Man Loves a Woman».

Der 2015 verstorbene amerikanische Soulsänger ist ein herausragendes Beispiel für ein One-Hit-Wonder – er erreichte in den zwanzig Jahren nach der Veröffentlichung von «When a Man Loves a Woman» (1966), seiner ersten Aufnahme überhaupt, nie mehr einen Top-Ten-Platz in der amerikanischen Hitparade. 1987 schliesslich wurde das Lied in einem Jeans- Reklamefilm gespielt, worauf die Single in Grossbritannien Platz 2 der Charts belegte. Er soll den Song bis dahin über 5000-mal öffentlich gesungen haben. Und ihn mittlerweile gehasst haben, habe ich im Radio gelernt. Bloss war’s der einzige Song, den das Publikum von ihm wirklich hören wollte.

Ich kann mich in Mr Sledge hineinversetzen. Vor zwanzig Jahren, am 8. Mai 2002, erschien meine erste Kolumne in dieser Zeitschrift, es handelte sich um die Abschrift meines Interviews mit Vivienne Westwood, einer britischen Modedesignerin; die Spalte war überschrieben mit «Kaufzwang», MvH, das Kürzel, die Marke meinetwegen, war damals noch nicht besetzt, «Ihr Kolumnist» war ich ebenfalls noch nicht.

Tausend Kolumnen später (das heisst, es sind rund 175 weniger, ich war während zirka dreieinhalb Jahren kolumnenfrei) und nach zahlreichen weiteren, längeren Artikeln begegne ich immer wieder mal jemandem, der, beziehungsweise häufiger: die, sagt: «Sie schreiben doch diese Kaufzwang-Kolumne – ich mag sie sehr [überhaupt nicht], lese sie jede Woche [nie].» Ich habe dafür eine Zeitlang wöchentlich mehr oder weniger berühmte Menschen befragt, die Spalte wurde, nebenbei erwähnt, 2006 umbenannt in «MvH», 2013 in «MvH trifft», seit 2020 steht «Wunderbare Welt» darüber.

Leute, die mein Œuvre kennen, stellen eine Minderheit dar, schon klar. Smalltalk während eines Dinners oder Apéros läuft ungefähr so ab (man hat sich vorgestellt und die Namen schon wieder vergessen, die junge Frau mit den alkoholischen Getränken ist nirgends zu sehen und das Gegenüber sagt): «Ich arbeite im Private Equity [oder schlimmer] in der IT [plus wenn man Glück hat] – und Sie?» – «Ich bin freier Journalist.» – «Haben Sie ein Spezialgebiet?» – «Porträts plus Reportagen, meistens aus Popkultur und Gesellschaft.» Normalerweise reicht das, aber es gibt Gesprächspartner, die nachhaken: «Haben Sie schon mal jemand Berühmtes getroffen?» – «Ja, ziemlich oft.» Worauf er/sie sagt: «Ich durfte jüngst Roger Federer kennenlernen, er war super nett.»

Als reiferer Mann – also seit kurzem – versuche ich, mich zu freuen, dass sich keiner mehr an meine kurzzeitige TV-Serie auf Pro-Sieben-Sat-1 erinnert,

Medieninteressierte und/oder allgemein streng urteilende Zeitgenossen dagegen wol- len ab und an wissen: «Kann es sein, dass ich Ihren Namen schon gelesen habe?» Nach meiner Antwort besteht die Chance, dass er mich mit Jeroen van Rooijen verwechselt («Ihre Stiltipps in der NZZ sind super»; mein Freund Jeroen schreibt seit fünf oder so Jahren nicht mehr dort). Oder die Rückmeldung lautet: «Ach, Sie machen doch Lifestyle, nicht wahr?»

«When a Maaaaan Loves a Woman», manchmal erkennt sich MvH in Percy Sledge wieder. Als jüngerer Mann habe ich schon mal entgegnet: «Ja, aber ich habe auch Nobelpreisträger befragt, Paul Krugman, Paul Romer – oder Geistesriesen, Noam Chomsky, Niklas Luhmann ...» Wen man halt so nennt, um den Nachweis zu erbringen, man sei gebildet und gescheit.

Als reiferer Mann – also seit kurzem – versuche ich, mich zu freuen, dass meine Arbeit und also ich überhaupt irgendwie zur Kenntnis genommen werden (zudem, dass sich keiner mehr an meine kurzzeitige TV-Serie auf Pro-Sieben-Sat-1 erinnert, so sieht’s aus). Und, wer weiss: Eine Entwicklung vom One-Hit-Wonder zum late bloomer, Spätzünder, ist denkbar. Percy Sledge soll auch die längste Zeit dran geglaubt haben.

28.05.2022