Meine Cousine - MARK VAN HUISSELING

27.08.2022

Kolumne

Meine Cousine

Dürfen Erlebnisse, die ein Autor in seiner Kolumne erzählt, persönlich sein? Nein, findet Ihr Kolumnist, sie dürfen nicht, sie müssen (persönlich sein). Und wahr.

Meine Verwandtschaft ist zahlenmässig überschaubar, und die Mitglieder leben in verschiedenen Ländern. Spätestens seit die meisten eigene Familien haben, verbringen wir kaum mehr Zeit miteinander. Das war der Haftungsausschluss. Sowie die Ankündigung, dass diese Spalte heute weniger leicht ausfällt, als die Spitzmarke «Wunderbare Welt» nahelegt.

Meine Cousine war mir am nächsten und wohl meine Lieblingsverwandte. Das hing damit zusammen, dass wir gleich alt sind, geboren 1965. Und unsere Mütter ein enges Verhältnis pflegten. Natürlich wäre mir ein Junge als Gspänli lieber gewesen, doch für ein Mädchen war sie in Ordnung. Vor allem aber war ihre Anwesenheit auf dem Bauernhof, wo wir gemeinsame Frühlings- und Herbstferien verbrachten, immer noch besser, als das einzige Kind weit und breit zu sein (und alleine spielen zu müssen).

Später, als wir Teenager waren, sahen wir uns nicht mehr auf dem Hof, stattdessen ungefähr einmal im Jahr bei ihr zu Hause oder bei uns. Aus der früheren Spielgefährtin wurde eine Mitbewerberin – wer hatte was schon erlebt, gemacht, gekauft et cetera? Auf den zwei erstgenannten Gebieten hatte ich keine Chance: die erste Zigarette, der erste Rausch, das erste Mal Sex . . . Meine Cousine hängte mich ab, mit Leichtigkeit. Bloss bei Kleidung und Langspielplatten lag ich vorne. Doch diese Kategorie kompensierte die vorherigen kaum, was die Bedeutung angeht. In der Schweiz hatte man halt mehr Geld, drum besass ich mehr Dinge. Kommt dazu, dass meine Cousine sich nicht viel aus Mode machte respektive ihr Fiorucci, Benetton, Fruit of the Loom und ähnliche Marken egal waren, sie trug Batikröcke. LPs sammelte sie ebenfalls keine, stattdessen ging sie auf Konzerte und verkehrte mit local hero-Musikern.

Als junge Erwachsene verloren wir uns aus den Augen. Weil wir nicht mehr teilnehmen mussten an Familienschläuchen. Ich war ein Popper, hätte gerne Karriere gemacht, am liebsten in einer Bank oder wenigstens auf der Versicherung. Wohingegen meine Cousine, vermutlich als Einzige der Familie, ein wenig verrückt unterwegs war. Beziehungsweise wie es Endo Anaconda in «Furt» über seinen Antihelden poetischer ausdrückt: «Der Hene füehrt es bessers Läbe, zärtlech, frei vertröimt u wild.»

Dann wurde sie – wir hätten das nicht gedacht – Mutter, ihr Sohn hat special needs, wie man sagt. Sie nahm die Herausforderung respektive Lebensaufgabe an. Und führt seither ein «gewöhnliches» Leben; ihr Junge, mittlerweile zwanzig Jahre alt, ist weitergekommen und hat eine bessere Lebensqualität erreicht, als ihm vorausgesagt wurde (später hatte sie zudem eine gesunde Tochter).

«Sie erzählte, dass sie glücklich sei. Und dass sie Krebs habe.»

Vergangenen Sommer – am Abend bevor in Deutschland, gar nicht weit entfernt, von wo sie lebt, Wassermassen vom Himmel fielen und die grosse Flut verursachten – traf ich sie zum ersten Mal seit Jahren wieder. Sie erzählte, dass sie glücklich sei. Und dass sie Krebs habe. Dass sie aber voraussichtlich im Herbst, oder im Winter spätestens, aus dem Gröbsten raus sein werde. Sie wirkte zuversichtlich, gefestigt, stark.

Im Hotel las ich in «On Death and Dying», dem Buch der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, nach. Befand sich meine Cousine in Phase eins des Prozesses (nicht wahrhaben wollen) oder schon in Phase drei, dem Verhandeln? Oder lag sie ganz einfach richtig und würde tatsächlich bald wieder gesund?

Dieses Frühjahr, nach Chemotherapien und Operationen, sah es gut aus. Noch ein paar kleine Komplikationen, sagte sie, aber kein Problem. Im Sommer dann war alles ganz anders – Metastase. Keine Operationen mehr, Schluss mit Chemo, raus mit dem Port (ein Zugang, über den ein Schlauch ins Herz geleitet wird, um Wirkstoffe schneller zu verteilen sowie die Venen zu schonen). Ihr grösster Wunsch war, noch einmal für einen Tag mit der Familie ans Meer zu fahren.

Bei unserem letzten Treffen sagte sie, sie habe wohl nicht mehr viel Zeit. Das sei schade, aber irgendwie nicht schlimm. Der Satz, den Michel Houellebecq in «Vernichten» wiedergibt, fiel mir ein: «Der Tod ist für den Direktbetroffenen verhältnismässig unbedeutend.» Sie habe ein gutes Leben gehabt, nur kein langes, fasste sie zusammen. Das ist dann wohl Phase fünf nach Kübler-Ross: acceptance, Annahme.

27.08.

27.08.2022