Man stellt es sich anders vor: Wer durch Kreuzlingen geht und als Ziel den Grenzübergang nach Deutschland hat, den nur Fussgänger nutzen dürfen, durchquert das Gelände, wo sich einst das Sanatorium Bellevue befand. Anders vorgestellt hat man es sich wegen des Namens «Bellevue» – dieser legt einen schönen Blick über den Bodensee nahe. Stattdessen sieht das Auge bloss Wände von Häusern auf allen Seiten. Von denen natürlich viele noch nicht standen in der hohen Zeit des Bellevue zwischen, sagen wir, 1870 und 1920.
Doch schon damals war die Sicht aus den Häusern, die das «Asyl» respektive die spätere «Curanstalt» sowie «Klinik» bildeten, keine berühmte. Das waren stattdessen die Betreiber – Vertreter der Psychiaterfamilie Binswanger – sowie manche Patienten der Anstalt.
Heute ist das 70 000 Quadratmeter messende Grundstück das, was man «verdichtet» nennt – nahe aneinander gebaute Mehrfamilienhäuser, in denen ein paar Betriebe ihre Dienste anbieten, ein Thai-Massage-Studio zum Beispiel oder, in einem anderen Bau, einige Start-up-Firmen, Jungunternehmen. Zur Hauptsache leben dort aber gewöhnliche Mieter in gewöhnlichen Wohnungen. Keine «abgespannten» Berühmtheiten oder Menschen von Adel mit «strapazierten Nerven» mehr, wie psychisch Kranke aus den oberen und obersten Gesellschaftsschichten früher genannt wurden.
Keine Irren in unmittelbarer Nähe
Bloss die Villa Bellevue, erbaut 1843, steht noch, inklusive des neuerstellten Wandelgangs aus Glas, seinerzeit ein Ort der gepflegten Konversation unter Patienten, der zur Villa Roberta, dem anderen erhaltenen Haus, führt; darin ist Kreuzlingens Zivilstandsamt untergebracht. Die Bezeichnung «Bellevue» stammt von der Exilantendruckerei. Der Betreiber, ein aus dem reaktionären Bayern in die liberale Schweiz geflüchteter deutscher Schriftsteller, hatte ihn vom früheren Standort, einem Schlösschen «Zur schönen Aussicht», über die Landesgrenze mit gezügelt.
Im Jahr 1857 kaufte der ehemalige Direktor der Irrenanstalt Münsterlingen, Ludwig Binswanger (der Ältere), die Liegenschaft Bellevue in Kreuzlingen, das seinerzeit noch Egelshofen hiess. Und zog mit seiner Familie dort ein; zuvor hatte der damals 37-jährige, im Königreich Bayern Geborene, aus einer orthodoxen jüdischen Familie Stammende seine Schweizer Staatsstelle aufgegeben. Bevor Menschen, die «mit sich allein in der Welt nicht mehr fertig wurden», in seinem «Asyl» im (fast) benachbarten Ort Kreuzlingen Schutz und Betreuung finden konnten, wie er die Aufgabe der Anstalt beschrieb, hatte er versucht, eine solche in Zürich zu betreiben. Und zu diesem Zweck ein Haus neben dem Anwesen, in dem sich heute das Museum Rietberg befindet, erworben.
Allerdings machte ihm der Nachbar Otto Wesendonck, ein reicher ehemaliger Kaufmann aus Düsseldorf und Mäzen (dieser bezahlte das Zürcher Leben von Richard Wagner und dessen Frau Minna; das Paar bewohnte sein Gartenhaus), ein Angebot, das Binswanger nicht ablehnen konnte. Weil Wesendonck keine Irren in unmittelbarer Nähe von sich und den Wagners erdulden wollte. Der Immobiliengewinn ermöglichte Binswanger den Ankauf der grösseren und stattlicheren Villa Bellevue in der Provinz.
Menschen, die mit sich allein in der Welt nicht mehr fertig werden, finden hier Schutz und Betreuung.
Der Psychiater fiel auf seinem Fachgebiet durch für die damalige Zeit fortschrittliche, ja avantgardistische Ansichten auf: «Nur ein Plus oder Minus unterscheidet den sogenannten Geisteskranken von tausend anderen fähigen und unfähigen Köpfen der menschlichen Gesellschaft», schrieb er im Jahresbericht der Münsterlinger Anstalt von 1851. Und weiter unten heisst es: «... in der jetzigen Art des Denkens und Handelns des Geisteskranken liegt der ganze frühere Mensch, seine ganze frühere Lebensgeschichte offen dargelegt, ein aufgeschlagenes Buch voll Irrtümer und Fehler, dessen Einleitung von einer verkehrten Erziehung, von den Sünden der Eltern und der Familie in physischer und moralischer Beziehung vom Momente der Zeugung an die ganze Entwicklungszeit hindurch, häufig auch vom Erfassen eines verfehlten Lebenszwecks handelt». Verkürzt ausgedrückt: Es gibt mittels Ratio erklärbare Ursachen, die zu Geisteskrankheiten führen. Was sich als Erkenntnis deutlich abhob von der bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts mehrheitlich anerkannten Sicht, nach der Kranke vom Teufel oder von Dämonen besessen waren.
Heilfähige Kranke aus besseren Ständen
Darüber hinaus hatte sich Binswanger ein Geschäftsmodell ausgedacht, das ebenfalls abwich vom Standard. Er beschrieb zur Eröffnung des Asyls, wie er während seines siebenjährigen öffentlichen Wirkens als Direktor der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen erfahren habe, «dass in den von der Armenklasse zunächst bevölkerten Staatsanstalten die wenigen für Pensionäre reservierten Plätze das bestehende Bedürfnis nur teilweise deckten». Mit anderen Worten: Es fehlte an Betreuungsangeboten für Mitglieder der oberen, vermögenden Gesellschaft. Und das stellte eine Marktlücke dar. Was bei ihm den Entschluss hervorrief, «eine Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslands zu errichten». Voilà, die Idee für die erste Schweizer luxury und/oder celebrity rehab, Luxusklinik für eine vermögende und/oder berühmte Kundschaft, war entstanden.
«Der Name der Anstalt verbreitete sich rasch weit über die Landesgrenze hinaus», schrieb der Autor eines Artikels im Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers vor rund vierzig Jahren. Die Krankheit, die es für Binswanger und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den 1860er Jahren zur Hauptsache zu behandeln gab, sei die durch Syphilis ausgelöste progressive Paralyse gewesen (auch «Gehirnerweichung» genannt; erst ab 1917 dank der zufällig entdeckten heilsamen Wirkung der Malariabehandlung erfolgreich bekämpft).
Die Patientenzahl war bis zu Binswangers Tod im Jahr 1880 auf ungefähr vierzig angestiegen, berichtete der Magazin-Journalist weiter, weshalb man Platz benötigte und zwei benachbarte Häuser gekauft wurden. Trotz dieser Investitionen blieb genug übrig, so dass der Psychiater und Anstaltsleiter 1874 für sich und seine Familie das 36 000 Franken teure Landgut Brunnegg erwerben konnte und zu einem schlossartigen Gebäude umbauen lassen konnte – zur Einordnung: Der Pensionsansatz in der ersten Klasse des Bellevue betrug 5 Franken am Tag.
«Binswangerei»
Jetzt einen Sprung über 148 Jahre oder vier Generationen nach vorne: Am Stadtrand von Kreuzlingen wohnt Andreas Binswanger. Der 71-Jährige weiss wahrscheinlich am meisten über die Schweizer Psychiaterfamilie. Und unterhält in seinem grossen, neueren und aufgeräumten Einfamilienhaus die umfassendste Sammlung von Dokumenten, Publikationen et cetera, in denen es um die Binswangers oder ihr Sanatorium geht; Ludwig Binswanger der Jüngere (1881–1966), ein Enkel von Ludwig dem Älteren und der «wohl bekannteste Spross der Familie» (Wikipedia), war sein Grossonkel. Wer Auskünfte oder Unterlagen benötigt, besucht den Familienhistoriker mit Ausbildung zum Landwirt, der 1950 geboren wurde und im Bellevue aufwuchs.
Seine Kindheit sei geprägt gewesen von dem, was er «Binswangerei» nennt. Und meint die Integration der Familie in den Anstaltsbetrieb. Der ständige Austausch seiner Verwandten mit Insassen habe auch zur Philosophie Ludwig Binswanger des Jüngeren gehört, der das Bellevue bis 1956 leitete. In der Hierarchie seines Grossonkels (dieser und Andreas’ Grossvater waren Brüder) seien an erster Stelle die Patientinnen und Patienten gekommen, dann die Familienmitglieder und danach der Rest der Welt. Was dazu geführt habe, «dass es Kreuzlingen gab und das Bellevue – beide hatten eigene Leben», sagt er. Man habe zwar kaum etwas voneinander mitbekommen, doch das eingezäunte Bellevue mit den psychisch Kranken sei wohl vielen Anwohnern suspekt gewesen.
Zwangsjacken öffentlich versteigern
Seit die Anstaltsleitung von Ludwig dem Älteren an dessen Sohn Robert (1850–1910; er führte das Bellevue dreissig Jahre lang) gegangen war und in der Folge von Ludwig dem Jüngeren übernommen wurde – er trat 1910, knapp dreissigjährig, nach dem plötzlichen Tod des Vaters, als Klinikchef an –, waren zahlreiche Gebäude dazugekommen. Im erwähnten Zeitschriftenartikel wurden die Immobilien als ein «weitverzweigtes Villensystem» beschrieben, zu dem mindestens neun grosse Häuser zählten. «Weil nur dieses ermöglicht, die Wünsche und Bedürfnisse jedes einzelnen Kranken in Bezug auf Wohnung im weitesten Masse zu berücksichtigen und diese Verhältnisse möglichst den heimischen anzu- nähern», stand in einem Prospekt.
Auch Robert, ein Schüler Ludwig Meyers, des Begründers der modernen Behandlung Geisteskranker in Deutschland – dieser hatte sämtliche Zwangsjacken der Irrenabteilung des Hamburger Krankenhauses öffentlich versteigern lassen –, war ein fortschrittlicher Geist wie sein Vater Ludwig vor ihm. Er lehnte etwa jegliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Patienten ab. Josef Breuer, ein österreichischer Arzt und neben Sigmund Freud ein Mitbegründer der Psychoanalyse, schickte seine «Anna O.» zu Binswanger nach Kreuzlingen; die Frau, die tatsächlich Bertha Pappenheim hiess, war als erste Patientin psychoanalytisch behandelt worden.
Robert Binswanger war also offen für Entwicklungen der damals im Umbruch befindlichen Seelenheilkunde, er umarmte Neuerungen. Dennoch sieht heute Ralf Binswanger, 81, Psychiater in Zürich und der zehn Jahre ältere Bruder von Familienhistoriker Andreas, seine Verdienste vornehmlich im kaufmännischen Bereich – er hatte Land zugekauft, um die Anstaltserweiterung voranzutreiben.
Unter Direktor Robert Binswanger erlebte die «Curanstalt» regen Zulauf von Patientinnen und Patienten nicht bloss wegen der angebotenen Behandlungsmethoden. Sondern auch aus altbekannten (oder niedrigeren) Beweggründen – weil es sich beim Bellevue zunehmend um einen Ort handelte, an den Familienoberhäupter unerwünschte, sich nicht ihren Vorstellungen entsprechend aufführende Angehörige abschieben konnten mit einigermassen gutem Gewissen. Die Anstalt war zu einem grossen Teil von Abkömmlingen des deutschen, russischen und italienischen Adels bevölkert, diese wurden in den Büchern des Hauses als «Neurastheniker», Nervenkranke, geführt.
Das beste Geschäft im Kanton Thurgau
Man musste aber weder adlig noch Ausländerin sein, um, manchmal gegen den eigenen Willen, im Bellevue untergebracht zu werden. Öffentlich gemacht wurde etwa der Fall einer neunzehnjährigen Millionenerbin aus Basel, die von ihrem Vater eingeliefert wurde, nachdem sie von zu Hause ausgerissen war und in London einen Russen geheiratet hatte, den die Eltern für nicht standesgemäss hielten. Eine Lokalzeitung berichtete über die Internierung. Worauf Binswanger gegen den Verleger klagte, wegen Ehrverletzung und Kreditschädigung. Ohne viel Erfolg – der Verteidiger des Beklagten argumentierte, durch die Berichterstattung sei kein Schaden entstanden, «der Doktor Binswanger hat nach wie vor das beste Geschäft im Kanton Thurgau».
Was damit zusammenhing, dass die Verweilzeit aussergewöhnlich lang war. Oder wie Annett Moses und Albrecht Hirschmüller in den Marburger Schriften zur Medizingeschichte (Band 44: «Binswangers psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen», 2004) festhalten, «zeichnete sich die Anstalt auch durch einen Patientenstamm aus, der extrem lange Aufenthaltsdauern zu verzeichnen hatte». Während der Direktorenschaft Ludwig Binswangers senior etwa fanden sich 23 Aufnahmen, die durchgehend länger als fünf Jahre im Asyl verblieben. Mit 53 Jahren war die als fünfzehnte eingetretene Patientin Emilie Z. aus Bergamo am längsten im Bellevue – die Italienerin verbrachte ihr Leben zur Mehrheit in Kreuzlingen und konnte die Chefwechsel vom ersten Ludwig zu dessen Sohn Robert und schliesslich zum zweiten Ludwig Binswanger mitverfolgen.
In dessen Zeit hatte das Bellevue seine wirtschaftlich besten Zeiten, die Häuser waren mit bis zu achtzig gutzahlenden und lang bleibenden Pensionärinnen sowie Pensionären ausgelastet, die Zahl der Mitarbeiter war zirka gleich hoch. Dennoch lastete die Führung der Anstalt, die sein Vater gross gemacht hatte, Sohn Ludwig nicht aus. Es blieb Zeit für Forschung, die ihm ohnehin näherlag als die therapeutische Arbeit in der Klinik, zudem konnte er sich für diese auf den Einsatz gutausgewählter Assistenzärzte verlassen.
Seit dem Studium, als er von seinem Vater den Rat angenommen hatte, sich durch keine Schule (Denkart) vereinnahmen zu lassen, interessierte er sich für Erkenntnisse und Ansätze von Eugen Bleuler, Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich sowie Direktor am Burghölzli. Und noch stärker für Sigmund Freuds Psychoanalyse, die auf damals revolutionären und von konservativeren Kollegen entsprechend abgelehnten Gedanken fusste. Seine Doktorarbeit hatte er bei Carl Gustav Jung gemacht, der ihn mit Freud zusammenbrachte; daraus entstand eine langanhaltende Freundschaft «trotz fachlicher Differenzen» (Das Magazin), was womöglich einen Einzelfall im sozialen Leben des grossen Wieners darstellte.
Seine Haltung gegenüber der Psychoanalyse beschrieb Ludwig als die «oberste und verantwortungsvollste Entscheidung», die er zu treffen gehabt habe. «Er entschied sich schliesslich für die Psychoanalyse im Sinne eines medizinischen Hilfsverfahrens». Und nahm als einer der ersten Klinikdirektoren Freuds Patienten zur Weiterbehandlung auf. Zusammen mit einem jüngeren Kollegen, Medard Boss aus St. Gallen, begründete er die sogenannte Daseinsanalyse, die sich vereinfacht als eine der Psychoanalyse nahestehende psychiatrische und psychotherapeutische Richtung, die der phänomenologischen Methode folgt, beschreiben lässt (Wikipedia); sie orientiert sich philosophisch vor allem an Martin Heidegger, der den Menschen als «Dasein» kennzeichnete mit dem «In-der-Welt-Sein» als einer der Grundverfassungen.
Rauschende Feste
Das Sanatorium von Ludwig junior erreichte aber nicht bloss wegen der dort umgesetzten wissenschaftlichen Erkenntnisse Ausstrahlung. Auch die Namen von Insassen verbreiteten Glanz, sie zählten zu den Berühmtheiten ihrer Zeit: Vaslav Nijinsky, der russische Balletttänzer, der deutsche Kunstmaler Ernst Ludwig Kirchner, Schauspieler und Regisseur Gustaf Gründgens, Erika Mann, Tochter des Nobelpreisträgers und selbst Schriftstellerin, Annemarie Schwarzenbach, ihre Freundin und Zürcher Grossbürgertochter plus viele andere, deren Identität aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes diskret behandelt wurde. Oder wie es der Zürcher Psychiater und Freudianer Mario Gmür zusammenfasst: «die Kokainisten».
Röntgenbestrahlung der Eierstöcke gegen paranoide Schizophrenie durch sexuelle Frustration.
Nicht zu dieser Gruppe gehörte Alice Mountbatten, die aus Deutschland kommende Mutter des vergangenes Jahr verstorbenen Prinz Philip, Gemahl von Königin Elizabeth II. Sie war die längste Zeit ihres Lebens in psychiatrischer Behandlung, 1930 sollen Freud und Ernst Simmel, ein deutscher Psychoanalytiker, bei ihr paranoide Schizophrenie, mit verursacht durch sexuelle Frustration / nicht ausgelebte Leidenschaft, erkannt haben (Behandlung: Röntgenbestrahlung der Eierstöcke zwecks Beschleunigung der Menopause). Alice Mountbatten verbrachte zwei Jahre im Thurgauer Sanatorium, gegen ihren Willen wohl, sie soll sich wahlweise für die Braut Christi oder Buddhas gehalten haben.
Andere Pensionärinnen und Pensionäre verbrachten bessere Tage im Bellevue: Man liest von rauschenden Festen, die gefeiert wurden. Einträge auf der Gästeliste zeigen, dass die Anstalt auch Ort gesellschaftlicher Anlässe war und eine starke Anziehung auf Geistesgrössen ausgeübt hatte. Zu den Besuchern zählten Edmund Husserl, der Philosoph und Mathematiker, seine Kollegen Max Scheler und Martin Buber oder der Schriftsteller Werner Bergengruen. Joseph Roth verewigte das Sanatorium im «Radetzkymarsch» – in dem Roman kommt ein Fabrikant, Herr Taussig, vor, der an «leichtem, sogenannten Irresein litt und in jene Anstalt am Bodensee fuhr, in der verwöhnte Irrsinnige aus reichen Häusern behutsam und kostspielig behandelt werden, und die Irrenwärter zärtlich waren wie Hebammen».
Falls bis hierher das Bild entstanden ist von unablässigem Erfolg des Sanatoriums – dies trifft nicht ganz zu. Es habe immer wieder wirtschaftlich herausfordernde Jahre gegeben, sagt Familienhistoriker Andreas Binswanger, «während des Ersten Weltkriegs etwa. Und während des Zweiten natürlich.» Doch diese waren, aus späterer Zeit betrachtet, nicht vergleichbar mit der Krise, die die Anstalt ab ungefähr Mitte der 1960er Jahre durchmachte. Und die schliesslich dazu führte, dass das Bellevue aufgegeben werden musste.
1956, fast ein Jahrhundert nach der Klinikgründung, übertrug Ludwig die Leitung seinem Sohn Wolfgang, dem «letzten Binswanger in dieser Rolle», wie Ralf Binswanger, der Psychiater in Zürich, seinen Onkel zweiten Grades bezeichnet. Wolfgangs Absicht war es, die im Hause geltende patriarchalische Ordnung zu lockern. Und durch eine die Mitarbeiter und Patienten einbeziehende Führung zu ersetzen. Er schrieb: «Früher stand in der Anstalt das Bedürfnis, dass nicht zuviel passiere, das Bedürfnis nach Ruhe, im Vordergrund. Die Symptome liessen sich mit den anfangs der fünfziger Jahre entdeckten Psychopharmaka dämpfen.» Das sei aber keine ursächliche Heilung. Erst mit der Zeit habe man realisiert, wie wichtig es sei, den Patienten zu ermutigen, statt ihm mit Argwohn zu begegnen, «ihm Gelegenheit zur Bewährung zu geben, statt ihn bewahren zu wollen».
Der Sohn hielt sich ziemlich zurück, solange der Vater noch lebte. Doch nach dessen Tod 1966, gibt der Autor des Magazin-Artikels einen Pfleger wieder, der zwanzig Jahre im Bellevue gearbeitet hatte, sei rasch alles anders geworden: «Das Personal hatte früher grundsätzlich immer recht, die Patienten waren rechtlos.» Als Wolfgang Binswanger das Kommando dann übernahm, sei es auf einmal vorbei gewesen damit. «Meistens waren wir zuerst einmal die Blöden, die nichts verstanden.» Wolfgang Binswanger wiederum schrieb: «Gelingt es uns, den einzelnen Menschen als Daseinspartner anzusprechen, treten meist seine unheimlichen Anwandlungen schnell in den Hintergrund.»
Der Therapeut macht sich überflüssig
Eine Erkenntnis, die neben anderen Entwicklungen in der Seelenheilkunde, wohl dazu beitrug, dass anstelle langer, manchmal sehr langer stationärer Behandlungen psychisch Kranker zunehmend wesentlich kürzere Aufenthalte oder ambulante Einsätze verordnet wurden. Der Therapeut, der auf die richtige Behandlung setzt, macht sich also überflüssig. «Die klinische Psychiatrie zielt letztlich auf ihre eigene Abschaffung; die Klinik wurde ein Stück weit von jener Entwicklung überrollt, die in Bewegung zu bringen sie selbst mitgeholfen hat.»
So viel zu den exogenen Faktoren, den äusseren Ursachen, des Niedergangs, der dazu führte, dass die Familie sich 1979 entschied, die Klinik zu schliessen. Doch auch Gründe von innen, aus dem Haus oder der Sippe, waren mitverantwortlich. Ralf Binswanger, von 1966 bis 1975 Verwaltungsrat des Bellevue, sagt, er habe «diese Klientel nicht gesucht» (in seinem Wikipedia-Eintrag wird er als «kommunistischer Militanter» beschrieben; mir gegenüber sprach er von sich und seinen Brüdern als «Herrensöhnlein»). Andererseits habe er rasch gemerkt, dass die Klinik ökonomisch keine Zukunft habe. Wolfgang, «der letzte Binswanger», habe zwar wegweisende Behandlungsformen eingeführt, die Erneuerung der Anstalt in eine therapeutische Gemeinschaft etwa, doch nachhaltig sei der Betrieb unter seiner Führung nicht gewesen. Man hätte vielleicht 65 stationäre Patientinnen und Patienten gebraucht, um kostendeckend wirtschaften zu können, habe tatsächlich aber bloss 40 bis 45 gehabt.
Was auch damit zu tun gehabt hatte, dass nach dem überraschenden frühen Tod von Werner Binswanger, dem administrativen Leiter des Bellevue, in der Familie kein betriebswirtschaftlich geeigneter Nachfolger zu finden gewesen sei. Werner war mit 45 während eines militärischen Wiederholungskurses am Q-Fieber erkrankt und an den Folgen gestorben; Ralf Binswanger war damals siebzehn, Andreas sieben. Und als dann noch die Patientenentschädigung aus Deutschland (für Pflegeangebote in der Schweiz) weggefallen sei, habe man einen jährlichen Fehlbetrag von bis zu sechs Millionen Franken decken müssen.
Während der nächsten rund fünf Jahre versuchten Mitglieder der jungen Binswanger-Generation, das Bellevue neu aufzustellen. Doch ihre Abklärungen und Untersuchungen allfälliger zukünftiger Geschäftsmodelle führten zur Einsicht, dass es nur eine Lösung gebe: die Schliessung des Betriebs. Was die Generalversammlung daraufhin beschloss. Denn dringend nötige Investitionen für das Unternehmen, vor allem in Gebäude und Einrichtungen, waren als zu hoch eingeschätzt worden.
1985 hatten die Stimmberechtigten zu entscheiden, ob die G vor fünf Jahren aufgegebene Bellevue übernehmen solle. Das Ergebnis: Nein. Was Andreas Binswanger nicht überraschte, Kreuzlingen hatte bereits den Seeburgpark, eine grosse, öffentlich zugängliche Erholungsanlage, und man wollte sich nicht in neue finanzielle Abenteuer stürzen.
Also machten sich die Bellevue-Aktionäre auf die Suche nach einer anderen Käuferschaft. Die Anteile waren innerhalb der grossen Familie breit gestreut; Dagny Margarete, die Witwe von Werner und Mutter von Ralf, Andreas sowie zweier weiterer Kinder, hielt eine Sperrminorität von rund einem Drittel der Stimmen. Dies, weil sie mit geerbten Mitteln einen komplizierten und lange vorbereiteten Handel mit einem Niederländer, der in den 1930er Jahren der Anstalt Geld gegen Aktien als Sicherheit überlassen hatte, abschliessen konnte. Die Binswangers fanden endlich einen Immobilienentwickler, der ihnen die 70 000 Quadratmeter Kreuzlinger Bauland abkaufte, für rund fünfzehn Millionen Franken (die verbliebenen Immobilien inklusive).
«Der Hauptteil des Areals wurde in den 1990er Jahren für den Bau einer Wohnanlage genutzt», schliesst der Eintrag des Sanatoriums Bellevue in üblicher trockener Wikipedia-Art. Ferner gibt es ein paar Betriebe, die ihre Dienste anbieten, ein Thai-Massage-Studio zum Beispiel oder einige Start-up-Firmen, Jungunternehmen. Zur Hauptsache aber gewöhnliche Mieter in gewöhnlichen Wohnungen. Mit anderen Worten: Heute lebt dort höchstens der ganz normale Wahnsinn.
Annett Moses und Albrecht Hirschmüller: Binswangers psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen. Marburger Schriften zur Medizingeschichte, Band 44. Peter Lang. 2004
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